"Die ganze Schöpfung seufzt"

Leid und Erlösungsvision im Stabat Mater Antonín Dvořáks

von Markus Belmann

Die christliche Liturgie des späten Mittelalters erlebte eine enorme Entwicklung: Der liturgische Kalender wurde durch etliche Feste und Gedenktage erweitert, das gregorianische Repertoire durch unzählige Neudichtung (darunter über 1000 Sequenzen!) ausgebaut und die bereits weit entwickelte Mehrstimmigkeit erhielt – allen Widerständen der kirchlichen Autoritäten zum Trotz – Einzug in die Liturgie. Aus Bewegungen der Volksfrömmigkeit, wie beispielsweise den norditalienischen Laudesi-Bruderschaften mit ihren religiösen, zunächst aber nicht liturgisch intendierten Gesängen, entsteht ein Repertoire, das ebenfalls nicht ohne Einfluss auf die römische Liturgie blieb. Ende des 12. Jahrhunderts nimmt in Umbrien die rasche Verbreitung der Franziskaner- und Klarissenorden ihren Anfang, deren Imitatio Christi durch eine einfache, asketische und unmittelbare Lebensweise die Nachfolge Christi sucht und eine überfällige Reform der Kirche initiiert. Die noch junge Bewegung ist um eine unmittelbare und bildhaft verständliche Vermittlung der Frohen Botschaft bemüht. So ist beispielsweise die Entstehung der Weihnachtskrippe auf den Hl. Franz von Assisi zurückzuführen. Ab dem 13. Jahrhundert entwickelten die Franziskaner in Jerusalem besondere Andachtsformen, aus denen später im 14. Jahrhundert der Kreuzweg hervorging. In dieser Zeit entstand das aus 20 Strophen bestehende lateinische Gedicht Stabat mater dolorosa. Als Autoren kommen Papst Innozenz III. (+ 1216) oder die Franziskanern Iacopone da Todi (+ 1306) und Johannes Bonaventura (+ 1274) in Betracht. Es ist ein kurzer Satz aus dem Johannesevangelium (Joh 19,25 „Bei dem Kreuz Jesu stand[en] seine Mutter…“), aus dem sich eine poetische Nachempfindung der Leiden der Mutter Jesu und des Gekreuzigten selbst entwickelt. Die drastischen Schilderungen entsprechen ganz dem Zeitgeist und sollten dem Betenden eine empathische Teilhabe am Passionsgeschehen ermöglichen. Ist der Text zunächst betrachtender Natur, entwickelt er sich zunehmend zu einem persönlichen Gebet, das in die abschließende Bitte um das ewige Leben („Paradisi Gloria“) mündet. 

„Der Kerl hat mehr Ideen, als wir alle zusammen.“ - Antonín Dvořák als Komponist

Antonín Leopold Dvořák kommt 1841 als erstes von neun Kindern im böhmischen Nehalozeves zur Welt und wird früh von seinem Umfeld musikalisch gefördert. Er besucht die Prager Orgelschule, wirkt aber zunächst ab 1959 für zehn Jahre als Bratschist in einem Privatorchester, das später im Prager Opernorchester aufgeht. Schon in dieser Zeit unternimmt Dvořák Kompositionsversuche. Ein staatliches Stipendium (ab 1874) sowie der von seinem Förderer und lebenslangen Freund Johannes Brahms vermittelte Kontakt zum Verleger Fritz Simmrock führen schließlich 1877 mit den Klängen aus Mähren zu seiner ersten Veröffentlichung und leiten Dvořáks internationalem Durchbruch als Komponist ein. Zu diesem Zeitpunkt bestehen bereits weitreichende Skizzen des Stabat Mater, angefertigt zwischen dem 19. Februar und dem 4. Mai 1876. Nach einer längeren Unterbrechung, in welcher Dvorak an der Oper Der Bauer, ein Schelm, ein Streichquartett, Tänze und mehrere Chorwerke verfasste, vollendete er die Partitur am 13. November 1877. Ist dieser Zeitraum in beruflicher Hinsicht von enormen Karriereschritten (neben seinem kompositorischen Durchbruch unterrichtet Dvořák ab 1874 und erhält außerdem die schon lange ersehnte Anstellung als Organist) und einer großen Produktivität gekennzeichnet, haben andererseits er und seine Frau Anna 1875 und 1877 den Tod ihrer drei Kinder zu beklagen. Dies gab und gibt Anlass zu Spekulationen, die das Stabat Mater regelrecht zum einem Akt der persönlichen Trauerbewältigung stilisieren. Eine derartige enge Verknüpfung von Werk und Biographie wäre jedoch leichtfertig, zumal hierzu keinerlei Einlassungen Dvořáks überliefert sind. Unbestritten ist hingegen, dass sich ein Komponist in seinem Wirken seiner emotionalen Erfahrung bedient: So, wie der Text des Stabat Mater die Empathie des Betenden in den Mittelpunkt stellt, dürfte auch bei dessen Kompositionsprozess die persönliche Empathiefähigkeit Dvořáks von Bedeutung gewesen sein.

 

Neben Dvořáks „emotionaler Erfahrung“ und seiner religiösen Haltung steht dessen Stabat Mater auch unter dem Einfluss der musikalischen Sozialisation des Komponisten, die von der böhmischen Tanz-, Volks- und Unterhaltungsmusik geprägt ist. Diese volkstümlichen Quellen fließen in die Kunstmusik ein und charakterisieren den tschechischen Nationalstil, der sich unter Bedřich Smetana ab 1866 am Prager Nationaltheater entwickelt. Beim Stabat Mater treten diese Einflüsse am offensichtlichsten in den liedhaften Melodien, wie z.B. in der Strophenform des 6. Satzes und den häufigen Stimmführungen in Terzparallelen, in Erscheinung. Durch harmonische Einfärbung, melodische Rückung und eine äußerst differenzierte Orchestrierung gelingt Dvorak der Transfer in die symphonischen Dimensionen des Stabat Mater, die bereits im Einleitungssatz erfahrbar werden: an der Form eines symphonischen Kopfsatzes orientiert, erstreckt sich dessen Länge fast über ein Viertel des gesamten Werkes. Im Orchestervorspiel entwickelt sich aus den bordunartigen Oktavierungen des Tons Fis (Sie wecken Assoziation sowohl an den am Kreuz hängenden Christus, als auch an dort verharrende Mutter) die chromatische Abwärtsbewegung des Hauptmotives, das später vom Chor aufgegriffen wird. Den monumentalen Zügen des ersten Satzes setzt Dvorak in den folgenden Teilen einen Variationsreichtum bzgl. Orchestrierung und Besetzung (Soloquartett – Chor – Bass mit Frauenchor – Chor – Tenor mit Männerchor – Chor – Duett – Alt solo – Quartett und Chor) entgegen. Innerhalb des düsteren Grundtones gelingen feine Schattierungen: Erklingt in der Rondoform des Soloquartett Nr. 2 ein persönliches Aufseufzen, herrscht dagegen im marschähnlichem Chor Nr. 3 (Beachtenswert die Ähnlichkeit zum dritten Satz des Schubert-Klaviertrios D 929!) ein ernst-dramatischer Grundton vor. Das pastoral anmutenden Tui nati des 5. Satzes entfaltet hingegen einen verhaltenen Optimismus, während das innigliche A-capella des 7. Satzes (Vielleicht in Anlehnung an das Stabat Mater Gioacchino Rossinis?) italienisch-operesk anmutet. 

„Wir werden aber alle verwandelt werden“ - ein altes Motiv in neuen Kleidern

Der Schlusssatz beginnt mit einem Rückgriff auf die Einleitung des ersten Satzes. Jedoch nimmt er einen gänzlich anderen Verlauf: Die dynamische Steigerung des Chores mündet diesmal überraschend in einen Dur-Klang und im abschließendem Allegro molto erscheint das chromatisch absteigende Hauptthema des Anfangs nun im neuen, strahlenden Gewand: Das Tongeschlecht hat sich nach Dur gewandelt und die Motorik des pentatonischen Amen-Motives trägt ebenfalls zur Verklärung der anfänglichen Schmerz-Motivik bei. So gelingt Dvorak am Ende des Werkes nicht nur eine positive Wendung in eine Auferstehungsvision, sondern er verweist in der Verwendung desselben Motives in zweierlei Gestalten auf die unzertrennliche Verbindung von Leid und Erlösung. Es ist die Andeutung des sprichwörtlichen „Licht am Ende des Tunnels“, von dem Paulus von Tarsus weniger trivial sagt: „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“ (Röm 8, 18).

 

Dvorak, über den Johannes Brahms schwärmte „Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.“, lässt sich nicht auf seinen Ideenreichtum reduzieren, sondern sollte als tiefgründiger Meister der Durchführung, der mit Weitsicht große Formen gestaltet und eine differenzierte Instrumentierung beherrscht, wahrgenommen werden. Vielleicht ist es ein Abbild seiner Religiosität, vielleicht schlichtweg ein Zeichen guten Geschmacks, dass er den Abschluss des Werkes nicht gänzlich der Emphase des Schlusssatzes überlässt, sondern dessen Fluss sich ins pianissimo auflösen lässt.

 


Die Aufführung des Stabat Mater wurde aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt. Bereits gekaufte Tickets werden an der jeweiligen Vorverkaufsstelle erstattet.